Wie benutzen Menschen im Alltag Schriftsprache und wann wird Schriftsprache relevant?
Prof. Dr. Helmut Bremer zeigte zunächst auf, dass der Umgang mit Schriftsprache immer in die Alltagszusammenhänge und das soziale Milieu der Betroffenen eingebunden ist. Menschen eines Milieus ähneln sich in ihren Einstellungen zu Bildung, Arbeit, Familie und Freizeit, und so sind Bildungsmotive und –barrieren je nach sozialem Milieu unterschiedlich.
Das Interesse an Lern- und Bildungsprozessen entzündet sich in der Regel im Kontext alltäglicher Lebensführung, im Freundeskreis, in der Kindererziehung, in politischen, kulturellen oder arbeitsbezogenen Kontexten. Um Zugänge zu den Menschen herzustellen, die nicht zu den gewöhnlichen Besuchern von Erwachsenenbildungskursen gehören, ist es daher wichtig, neben dem Schriftspracherwerb auch finanzielle, gesundheitliche, kulturelle und politische Bildung miteinzubeziehen. Es sind Ansätze und Konzepte zu entwickeln, die über den schulbildungsnahen Schriftspracherwerb hinausgehen und mehr von den alltagsrelevanten Themen der Teilnehmenden ausgehen.
Heimspiel oder Auswärtsspiel?
Insbesondere für Personen aus bildungsungewohnten Milieus erscheint institutionelle (Weiter-) Bildung häufig als notwendiges Übel oder als Bürde. Prof. Dr. Bremer bringt hier den Begriff der „doppelten Distanz“ ins Spiel: zum einen haben bildungsungewohnte Personen eine große Distanz zu Weiterbildungseinrichtungen, zum anderen ist die pädagogische Kultur in Bildungseinrichtungen von den Lebenswelten dieser Menschen weit entfernt. Aus der Forschung weiß man, dass Nichtteilnahme nicht mit mangelndem Interesse begründet werden kann, sondern der Besuch von Kursen für die Betroffenen quasi ein Auswärtsspiel, d.h. eine hohe Hürde darstellt, die erst unter großem Handlungsdruck überwunden wird.
Perspektiven für eine lebensweltortorientierte Alphabetisierungsarbeit
Die Milieustudien geben wichtige Hinweise auf die Möglichkeiten der zielgruppengerechten Ansprache und der Gestaltung von Bildungsangeboten. So ist es notwendig durch aufsuchende Bildungsarbeit und –beratung eine Nähe zu den Milieus und Sozialräumen der Betroffenen herzustellen. Dazu bedarf es auch einer Anpassung der Förder- und Organisationsstrukturen, die Weiterbildungseinrichtungen in die Lage versetzen, Geh-Strukturen einzurichten und aufsuchende Bildungsarbeit durchzuführen. In Bezug auf die Lehrenden besteht die Notwendigkeit, ihre Sensibilität für die Lebenswelten der Betroffenen zu fördern. Darüber hinaus sollten Schlüsselpersonen aus der Lebenswelt der Betroffenen (Arbeitsagenturen/Jobcenters, Kitas, Kulturvereine, etc.) sensibilisiert und in Beratungsprozesse eingebunden werden.