
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr verehrter Herr Professor Lorz, sehr verehrte Frau Professor Grotlüschen, meine sehr verehrten Damen und Herren,
7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter können in Deutschland nicht oder allenfalls auf einfachstem Textniveau lesen und schreiben. Das war das zentrale Ergebnis leo—Level-One Studie 2011, die uns alle aufgerüttelt hat.
Bund und Länder haben deshalb unmittelbar 2011 die Initiative ergriffen zu einer gemeinsamen „Nationalen Strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland“. Diese Initiative wurde dann 2016 in die Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung überführt. Von Beginn an haben sich zahlreiche Akteure aus Gesellschaft und Bildung angeschlossen.
Denn nur gemeinsam kann es gelingen, die Zahl gering literalisierter Menschen in Deutschland zu verringern und Grundbildung zu stärken.
Wo stehen wir heute? Und zeigen unsere Anstrengungen Erfolg? Um das zu erfahren, hat das BMBF die Wiederholung der LEO-Studie der Universität Hamburg gefördert. Gleichzeitig ist die neue LEO-Studie um viele Hintergrundfragen erweitert worden. Sie gibt jetzt auch Auskunft darüber, wie sich eine geringe Lese- und Schreibkompetenz in Situationen des Alltags auswirkt und vor welchen Herausforderungen gering literalisierte Erwachsene stehen.
Was hat sich seit 2011 verändert? Die Zahlen haben sich verbessert, und zwar deutlich: Bisher galten 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter als gering literalisiert. Heute sind es „nur“ noch 6,2 Millionen.
Der Anteil sank demnach von 14% auf jetzt 12%. Eine Verbesserung, mit der in dieser Höhe wohl kaum jemand rechnete. Die Zahlen im Detail wird Ihnen Frau Prof. Grotlüschen in ihrem Vortrag gleich erläutern.
Der Rückgang um rd. 1,3 Mio. an gering literalisierten Erwachsenen ist ein großer Erfolg für alle an der Alpha-Dekade beteiligten Partner! Eine Verbesserung kann nur gelingen, wenn wir mit der Lese- und Sprachförderung früh anfangen. Und dann dürfen wir in der gesamten Bildungsbiographie im Engagement nicht nachlassen.
Ich möchte hier nur wenige Beispiele erwähnen: die Stiftung Lesen engagiert sich bereits stark in der frühkindlichen Bildung. Die Länder haben ihre Anstrengungen im Schulbereich erheblich verstärkt und in der Erwachsenenbildung sind viele von Ihnen tätig. Ihnen allen gilt mein Dank. Ich bitte Sie, dass Sie sich im Rahmen der AlphaDekade weiterhin dafür einsetzen, dass möglichst alle so lesen und schreiben können, dass sie in vollem Umfang am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Die Maßnahmen des BMBF in der AlphaDekade setzten da an, wo wir im Rahmen unserer Zuständigkeiten wichtige Stellschrauben für die Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeiten sehen: Das ist – erstens – das Arbeitsleben: Rund 62 Prozent der gering literalisierten Erwachsenen gehen einer Erwerbstätigkeit nach.
2010 waren es nur rund 57 Prozent. Die gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt trägt dazu bei, dass auch gering qualifizierte Menschen jetzt bessere Chancen haben, eine Arbeit zu finden. Aber: Genau diese Menschen nehmen weit unterdurchschnittlich an Weiterbildungsmaßnahmen teil. Doch gerade gering Qualifizierte haben großen Weiterbildungsbedarf.
Aus diesem Grund sind Arbeitgeber wichtige Ansprechpartner für uns, um gering literalisierte Menschen zu erreichen und zu fördern. Arbeitsplatzorientierte Grundbildung trägt dazu bei, die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen zu erhalten.
In den vergangenen Jahren haben wir dazu zahlreiche Transferprojekte gefördert.
Diese Projekte liefern Instrumente
- zur betrieblichen Bedarfsanalyse,
- zur Beratung der Arbeitgeber,
- zur Schulung von Mitarbeitern zu Ansprechpersonen und
- zur Umsetzung von Grundbildungsinhalten in Betrieben.
So sorgen wir dafür, dass neue Weiterbildungskonzepte viele Menschen erreichen.
Viele Arbeitgeber haben inzwischen erkannt, dass die betriebliche Förderung der Lese- und Schreibkenntnisse ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhebliche Vorteile für ihr Unternehmen bringt. Besser literalisierte Personen machen weniger Fehler, sie sind in der Lage, höherwertige Aufgaben zu übernehmen und sie sind stärker motiviert und engagiert. Das hilft dem Einzelnen wie auch der Wirtschaft gleichermaßen.
Eine zweiter Ansatzpunkt ist die Lebens- oder Alltagswelt: Nicht nur am Arbeitsplatz, sondern überall kann ein Mensch, der Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hat, angesprochen und für ein Lernangebot motiviert werden: beim Arzt, bei der Tafel, in der Kita oder bei der Schuldnerberatung.
Im vergangenen Jahr haben wir 20 Projekte zur Förderung ausgewählt, die sich konkret mit der „Lebenswelt“ von gering literalisierten Erwachsenen befassen und sich mit Fragen des Alltags beschäftigen.
Mit diesem Ansatz wollen wir Menschen erreichen, die sich von den klassischen Kursangeboten beispielsweise an Volkshochschulen bisher nicht angesprochen fühlen.
Die Projekte richten sich an den Alltagsthemen der Menschen aus, wie z.B. gesunde Ernährung, Kindererziehung oder Finanzen, und verknüpfen diese mit der Verbesserung von Schriftsprachkompetenzen.
In diesen Projekten arbeiten Bildungsträger zusammen mit sozialen Einrichtungen wie sozialen Beratungsstellen, Familienzentren oder Tafeln. Einrichtungen also, die in der Regel bereits einen guten Kontakt zu Menschen mit Grundbildungsbedarf haben.
Menschen, die in solchen Kontexten noch spät lesen und schreiben gelernt haben, berichten davon, dass sie ein besseres Lebensgefühl gewonnen haben. Sie sind sicherer in Alltag, können sich leichter informieren und sind selbstständiger bei ihren Entscheidungen.
Drittens kooperieren wir mit neuen Partnern: Wir fördern jetzt im zweiten Jahr - in einer gemeinsamen Initiative mit dem Bundesfamilienministerium - Maßnahmen zur Verbesserung von Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen in Mehrgenerationenhäusern. Diese Mehrgenerationenhäuser sind kommunal sehr gut vernetzt und es sind Orte der Begegnung.
Dort gibt es zahlreiche niedrigschwellige Freizeit-, Unterstützungs- und Bildungsangebote. Mehrgenerationenhäuser sind daher in der Lage, auch Menschen anzusprechen, die bisher mit herkömmlichen Maßnahmen der Alphabetisierung und Grundbildung nur schwer oder gar nicht erreicht werden konnten.
Der Sonderschwerpunkt Mehrgenerationenhäuser ist übrigens nicht nur ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit von Bundesministerien, sondern auch für die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern. Es gibt inzwischen an vielen Stellen eine gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen den Mehrgenerationenhäusern und Landesstellen. Das sind zum Beispiel die Koordinierungsstelle der Länder, Grundbildungszentren oder, wie hier in Berlin, die Alpha-Bündnisse in den Bezirken.
Die Lernangebote auf kommunaler Ebene sind von dauerhaftem Nutzen. Dort, wo sich die Menschen gerne aufhalten, sich miteinander austauschen und gegenseitig helfen, kann nachbarschaftliche Hilfe und ehrenamtliche Arbeit leichter entstehen und sich fest etablieren.
Viertens schaffen wir leicht zugängliche digitale Lernmöglichkeiten: Wir haben durch unsere Förderung Lern- und Schulungsmöglichkeiten für die Grundbildung weiterentwickelt und in die Breite getragen.
Hier sind insbesondere die Lernportale und das Rahmencurriculum des Deutschen Volkshochschulverbandes zu nennen, deren Nutzung unter den Lehrenden mittlerweile weit verbreitet ist. Die beiden Lernportale Ich-will-lernen.de und Ich-will-deutsch-lernen.de wurden im vergangenen Jahr zu dem neuen DVV-Lernportal für Alphabetisierung, Grundbildung und Integration zusammengeführt. Erst kürzlich wurde dem DVV auf der Learntec für sein Lernportal der Innovationspreis delina verliehen.
Fünftens gehen wir mit dem Thema Alphabetisierung weiterhin in die Öffentlichkeit. Im vergangenen Jahr sind neue TV-Spots und ein Radiospot gestartet.
Mit der erneuerten Kampagne „Lesen und Schreiben – mein Schlüssel zur Welt“ heben wir bewusst die Vorteile hervor, die Menschen in ihrem privaten und beruflichen Leben erfahren, wenn sie besser Lesen und Schreiben können. Auch die Information und Sensibilisierung der Öffentlichkeit vor Ort bleibt wichtig. Zwei Alfa-Mobile sind deutschlandweit unterwegs, um in der Öffentlichkeit zu informieren.
Im Ergebnis können wir feststellen, dass das Thema funktionaler Analphabetismus innerhalb der Öffentlichkeit eine zunehmende Enttabuisierung erfährt. Es gibt eine größere Sensibilität für Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben gelernt haben. Und es gibt auch die wachsende Erkenntnis, dass Alphabetisierung und Grundbildung notwendig für die Erwerbstätigkeit ist und sich für jeden Einzelnen auszahlt.
Als sechstes bleibt auch die Forschung ein wichtiges Handlungsfeld der Dekade: Wir wissen zwar einiges über die Menschen mit Grundbildungsbedarf, die an Lernangeboten teilnehmen. Aber wir wissen noch immer sehr wenig über die Menschen, die bisher nicht an Lernangeboten teilnehmen. Deshalb fördern wir auch in Zukunft Forschungsprojekte wie zum Beispiel das Projekt REACH, das neue Erkenntnisse zu den Lebenswelten gering literalisierter Erwachsener liefert, um die Ansprache der Zielgruppen zu verbessern.
Ich möchte nun noch einen Blick nach vorn werfen. Was wird zukünftig notwendig sein? In der digitalen Wissensgesellschaft wird es zunehmend schwieriger, ohne ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen zurecht zu kommen.
Eine repräsentative Befragung im Auftrag des BMBF und der Stiftung Lesen im vergangenen Sommer hat gezeigt, dass mehr als zwei Drittel der Menschen in Deutschland Lesen auch im digitalen Zeitalter für unverzichtbar halten, um ihren Alltag zu bewältigen.
Die Gefahr, dass gering literalisierte Menschen im Alltag und im Arbeitsleben den Anschluss verlieren, ist durch die Digitalisierung noch gewachsen. Denn auch in einfachen Tätigkeiten ist es immer öfter nötig, computergestützte Arbeitsanweisungen zu verstehen oder die eigene Arbeit digital zu dokumentieren. Damit auch An- und Ungelernte mit den steigenden Anforderungen am Arbeitsplatz mithalten können, benötigen sie spezifische Weiterbildungsangebote.
Die Verbesserung der Schriftsprachkompetenz ist dabei oft der erste Schritt, um auch an beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen erfolgreich teilnehmen können.
Eine Unternehmensbefragung des IW aus 2018 zeigt, dass viele Unternehmen diesen Zusammenhang erkannt haben: 44% der befragten Unternehmen haben in den letzten 5 Jahren mindestens ein Angebot zur arbeitsplatzorientierten Grundbildung in ihrem Unternehmen durchgeführt.
Die Befragung zeigt auch, dass für viele Betriebe die Finanzierung solcher Angebote gar nicht die höchste Hürde ist. Die Betriebe wünschen sich vor allem auch Beratung und Begleitung bei der Planung und Durchführung passgenauer Grundbildungsangebote durch externe Bildungsträger. Dabei geht es oft um ganz praktische Fragen, zum Beispiel die Suche nach dem passenden Zeitfenster für Grund- und Weiterbildungsangebote bei Schichtarbeit.
Gerade bei der Frage, wie arbeitsplatzorientierte Grundbildung gelingen kann, haben wir durch innovative Projekte in der AlphaDekade in den letzten Jahren gute Erfolge erzielt. Deshalb ist und bleibt es ein zentrales Anliegen der AlphaDekade, die arbeitsplatzorientierte Grund- und Weiterbildung als wesentliches Element weiterhin zu fördern und zu verankern. Arbeitgeber benötigen weiterhin Unterstützung, wenn sie Lernangebote schaffen wollen. Dazu wollen wir ihnen Verfahren und Modelle an die Hand geben, um Unsicherheiten abzubauen.
Es bleibt auch weiterhin Wissensbedarf. Forschung ist hier der Schlüssel, um mehr über Menschen zu erfahren, die sich bisher vor Lernangeboten oder Kursen gescheut haben. Und wir haben in der Bevölkerung auch noch nicht alle mit dem Thema erreicht.
Es bleibt also – trotz der deutlichen Verbesserung der Ergebnisse der neuen LEO-Studie – viel zu tun in der Alphabetisierung und Grundbildung. Auch deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, die AlphaDekade weiter auszubauen.
Auch in Zukunft gilt: Die Verbesserung der Literalität und Grundbildung Erwachsener kann nur gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen. Dazu gehören:
• an erster Stelle die Länder, aber auch:
• die Dekadepartner, deren Beiträge unerlässlich sind, um Alphabetisierung und Grundbildung in der gesamten Gesellschaft voranzubringen;
• die vielen Lehrenden, die mit ihrem Engagement viel leisten,
• die Lernenden, die mit gutem Beispiel vorangehen und anderen Menschen mit Grundbildungsbedarf ein Vorbild sind;
• und last but not least: das Team der Koordinierungsstelle der AlphaDekade, das nicht nur diese Tagung ganz maßgeblich auf die Beine gestellt hat, sondern auch der „Motor“ der AlphaDekade ist.
Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.