Verlassen des „Kokon“ eröffnet Chancen
Das enge private Umfeld von gering literalisierten Erwachsenen zeichnet sich durch vielfältige gegenseitige Unterstützung und ein hohes Maß an Verbindlichkeit aus. Es stellt damit quasi einen „Kokon“ dar, der sich funktional im Hinblick auf die täglichen Lebensvollzüge, aber dysfunktional für Lernmotivation sowie die regelmäßige Teilnahme an Lernangeboten auswirkt.
In ihrem Input-Vortrag erläutert Johanna Leck die Hürden und Potentiale für diese regelmäßige Teilnahme. Außerhalb des „Kokon“ werde eher eine geringere Verbindlichkeit für die Wahrnehmung von Terminen oder Vereinbarungen identifiziert. Als Hürden wurden im Forschungsprojekt MOVE neben schlechten Erfahrungen mit dem Lesen und Lernen, eine fatalistische Haltung und geringe Selbstwirksamkeit, d. h. dass man an der eigenen Situation sowieso nichts ändern könne, sowie ein geringer Stellenwert von Bildung, Lernen und gutem Beruf identifiziert.
Gleichzeit hat der Blick auf Erwachsene, die Schwierigkeiten mit dem Lesen haben, gezeigt, dass bei ihnen durchaus der Wunsch besteht, ihre Kompetenzen zur unabhängigen Bewältigung von alltäglichen Aufgaben zu verbessern. Ihnen ist bewusst, dass Lesen eine wichtige Fähigkeit ist, vor allem auch im Hinblick auf das Lesen im digitalen Raum. Dieses Spannungsverhältnis von Hürden einerseits und Bewusstsein andererseits biete aus Sicht von Frau Leck aber auch Potentiale und Anreize für den Einstieg in Lernangebote. Dabei sei es wichtig, zunächst die unterschiedlichen Interessen der Erwachsenen mit Grundbildungsbedarf sowie ihre individuellen Lebensbedingungen festzustellen.
Ursache von Kursabbrüchen ist komplex
Das Projekt DRAG hat Ursachen, Risikofaktoren und Präventionsmöglichkeiten für den Abbruch von Lernangeboten in der Alphabetisierung und Grundbildung untersucht. Frau Sindermann erläutert in ihrem Input-Vortrag die Komplexität von Abbrüchen vor dem Hintergrund von individuellen, organisatorischen und strukturellen Risikofaktoren.
Potentielle Maßnahmen, um Abbrüche zu reduzieren oder zu verhindern sind je nach Phase des Lernprozesses – Kurs-Einstieg, regelmäßige Kursteilnahme, Kursende resp. Folgekurs – sehr unterschiedlich. Da erfahrungsgemäß die Kursabbruchquote im 1. Jahr bei 80 Prozent liegt, sind die Phasen des Kursbeginns und des Übergangs in andere Kurse mit den größten Herausforderungen verbunden. Diese können von individueller Überforderung über Mangel an passenden Angeboten und Dozierenden bis zu fehlender Kinderbetreuung während des Kurses reichen. Folglich ist die Identifikation von Hürden und Abbruchgründen zentral für die konkrete Kursplanung und -gestaltung sowie die Lernunterstützung zwischen und nach dem Kurs.
Die Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse der Lernenden, die situative Gestaltung des Lernsettings sowie Unterstützungsstrukturen und unmittelbare Lernerfolge im Kurs sind Faktoren, die zu einer regelmäßigen Kursteilnahme beitragen können. Eine umfassende Beratung über Angebote und finanzielle Fördermöglichkeiten, Schnupperteilnahme sowie die Sensibilisierung des sozialen Umfeldes oder die Begleitung zum ersten Termin können Hürden für den Kurseinstieg beseitigen. Nicht-Teilnahme wegen Umzugs, Jobwechsels oder Elternzeit sind aber nicht zwangsweise als „Abbrüche“ zu betrachten.
Sensible Phase ist der Kursbeginn
Dr. Nicole Pöppel bestätigt aus ihrer Erfahrung als Kursleiterin, dass die Orientierungsphase und der Kursbeginn im Hinblick auf die Atmosphäre im Kurs und das Verhältnis zu anderen Teilnehmenden die „fragilste“ Phase für Kursteilnehmende darstellen. Prof. Dr. Simone Ehmig bestätigt aus der MOVE-Forschung, dass vor Kursbeginn die Gesamtbiographie einer Person relevant ist: „In ihren engeren Lebenskontexten verstecken sich gering literalisierte Erwachsene nicht, weil ihr Leben funktioniert und sie keine Notwendigkeit zum Lesenlernen sehen.
Erst bei Brüchen im Leben gewinnt die Motivation, etwas zu ändern, an Bedeutung.“ Daher sollten Kurse berücksichtigen, dass individuelle Motive wie kurzfristige Bedürfnisbefriedigung oder Spaß zu haben eine große Rolle im Leben spielen. Lisa Göbel berichtet aus ihrer Praxis, dass „der Alltagsbezug kursbindend wirkt, wenn der Mehrwert des Lernens für die Teilnehmenden erkennbar ist und sich eine unmittelbare Verbesserung der eigenen Situation zeigt“. Dr. Veronika Thalhammer weist darauf hin, dass auch Übergänge zwischen Lernangeboten und Einrichtungen von Lernenden wie „neue“ Einstiegsmöglichkeiten wahrgenommen werden können und damit eine „sensible“ Phase darstellen.
Professionalität von Kursleitenden sowie soziale Netzwerkarbeit fördert Verbindlichkeit
Eine zentrale Rolle spielt das Verhältnis zwischen Kursleitenden und Teilnehmenden sowie zwischen Teilnehmenden. Julia Naji bekräftigt, dass Vertrauen ein wichtiger Aspekt sei: „Lernende sollen sich sicher fühlen!“. Die soziale Eingebundenheit in eine (Bildungs-) Einrichtung stellt einen zentralen Faktor für regelmäßige Kursteilnahme und Lernerfolge dar – nicht nur im Lesen und Schreiben, sondern auch bei der Persönlichkeitsentwicklung. Da geringe Literalität oftmals mit anderen Problemen einhergeht, ist es aus Sicht von Julia Naji sinnvoll, auch auf andere soziale Beratungsstellen hinzuweisen oder mit ihnen zu kooperieren.
Darüber hinaus tragen die Vielfalt von Kursformaten sowie Binnendifferenzierung entscheidend dazu bei, dass unterschiedliche Lernbedarfe von Teilnehmenden berücksichtigt werden können und damit eine Basis für längerfristige verbindliche Teilnahme geschaffen wird. Als Good Practice betrachtet Dr. Nicole Pöppel, dass Lernende auch selbst „Mutmacher“ werden können und andere gering literalisierte Erwachsene für Kurse gewinnen, so wie die Lernbotschafter beim ALFA-Mobil.
Wann ist das Lernen beendet?
Im Projekt DRAG wurde mit Kursleitenden auch diskutiert, wann eine Nicht-Teilnahme einen „Abbruch“ darstellt und wie Kursleitende mit Abbruchsintentionen der Teilnehmenden sowie erfolgten Kursabbrüchen umgehen. Dr. Veronika Thalhammer berichtet aus der Erfahrung von Kursleitenden, dass auch während der Nicht-Teilnahme am Kurs der Lernprozess weitergeführt wurde. Ein Abbruch wegen des Einstiegs in Arbeit könne auch als „positiver Drop-out“ angesehen werden, wenn das Teilnahmemotiv die Integration in den Arbeitsmarkt gewesen sei. Prof. Dr. Simone Ehmig stellte die Frage nach dem Lernbegriff von Bildungsträgern und Lehrkräften, vor allem wie letztlich Lernfortschritte definiert seien. Verbindlichkeit kann dadurch erzeugt werden, dass kurzfristige Lernerlebnisse befördert und Strukturen vorgehalten werden, die langfristig angelegt sind, aber auch kurzfristige Lernerfolge ermöglichen. Die Diskussionsteilnehmenden stimmen überein, dass Erfolge Zeit brauchen.
Moderation:
- Jana Arbeiter, Universität zu Köln
Vortrag:
- Johanna Leck, Stiftung Lesen
- Lena Sindermann, Universität zu Köln
Diskussion:
- Prof. Dr. Simone Ehmig, Stiftung Lesen
- Lisa Göbel, Verband der Volkshochschulen von Rheinland-Pfalz e.V.
- Julia Naji, GIZ Berlin
- Dr. Nicole Pöppel, Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V.
- Dr. Veronika Thalhammer, Ludwig-Maximilians-Universität München