Fachforum C: Formen der Adressierung in Kurs- und Sozialräumen

Vier Personen sitzen auf Hockern an Stehtischen, links davon steht eine Moderatorin © BMBF / Heidi Scherm
v.l.: Prof. Dr. Silke Schreiber-Barsch, Anna Karina Sepsi, Johanna Schneider, Dr. Antje Pabst, Susanne Kiendl

Partizipatives Forschen als Erkenntnisprozess

Ausgehend von den bisherigen Projektergebnissen stellt Frau Dr. Benz-Gydat zunächst die bisherigen Erkenntnisse aus dem Projekt Alpha-Lab vor. Das Projekt forscht mittels parti­zipativer Methoden, inwiefern individuelle Literalitätskonzepte von Lehrenden und Lernenden in Alphabetisie­rungskursen in Erscheinung treten und wie diese in der Kursarbeit genutzt werden können. Für seinen Forschungsansatz bildete das Projekt ein erweitertes Forschungsteam bestehend aus 4 Lernenden und 4 Lehrenden aus Lese-Schreib-Kursen. Im Sinne eines Empowerments und einer Arbeit auf Augenhöhe unterstreicht Frau Benz-Gydat die Bedeutung des partizipativen Vorgehens für eine tatsächliche Teilhabe an Forschung im Sinne eines Mitbestimmungs- und Mitspracherechtes, für das gegenseitige Verständnis füreinander und letztlich für das persönliche Selbstbild, so dass „keine Kluft zwischen Lehrenden und Lernenden“ entsteht. Sie erläutert im Weiteren konkrete Handlungsempfehlungen für die Kursarbeit.

Wie werden Erwachsene mit Lese-Schreib-Schwierigkeiten im Kurs angesprochen?

Eine Frau spricht an einem Rednerpult vor Publikum © BMBF / Heidi Scherm

Insbesondere der Austausch über biographiebezogene Themen im Rahmen eines Kurses könne Raum geben, die Vertrauensbasis zwischen Lehrenden und Lernenden zu stärken. Die Erkenntnisse von Alpha-Lab verdeutlichen, dass gerade durch einen Austausch auf Augenhöhe über unterschiedliche Erfahrungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Emotionen, die mit Lesen und Schreiben verbunden sind, Reflexionsprozesse angestoßen werden, die das gegenseitige Vertrauen und den Lernprozess der Teilnehmenden, auch im Sinne des Aufbaus eines positiven Selbstbildes sehr stark fördern können. Aus der Zusammenarbeit mit dem erweiterten Forschungsteam und den daraus resultierenden Projektergebnissen sind ein Fortbildungskonzept für Lehrende in der Alphabetisierung und Grundbildung sowie Aufgabenmodule für die Kursarbeit entstanden. Sie werden demnächst in einer Fachpublikation öffentlich zugänglich gemacht .

Adressierungsprozesse im Feld der Alphabetisierung und Grundbildung

Auch das Projekt ADRESS Netzwerkstudie untersucht partizipativ, wie in verschiedenen Regionen über Schriftsprach­probleme von erwachsenen Menschen gesprochen wird und wie dies eine erfolgreiche Ansprache für Bildungs- und Teilhabeoptionen beeinflusst. Dabei interessiert, wie die Lebenswelten von Men­schen mit geringen Schriftsprachkompetenzen in der Praxis verstanden und aufgegriffen werden. Projektmitarbeiterin Frau Bendel geht in ihrem Input-Vortrag auf empirische Ergebnisse aus den exemplarischen Fallstudien an den zwei Forschungsstandorten des Projektes in Niedersachsen und Sachsen ein.

Die Ergebnisse zeigen, dass in den professionellen Diskursen an zwei Standorten auf unterschiedliche Weise adressiert wird, also Angebote für gering Literalisierte mit verschiedenen Zielgruppenkonstruktionen einhergehen. Adressierungsprozesse stehen immer in einem Spannungsverhältnis, indem sie systematisch auf die Lebenswelt von Adressatinnen und Adressaten und institutionellen Bedingungen, die zu Typisierungen und Zuschreibungen führen, verweisen.  Diese herausfordernde Ambivalenz wird – das zeigt der Standortvergleich – von den Professionellen unterschiedlich bearbeitet und führt zu unterschiedlichen Passungsverhältnissen von lebensweltlichen Erfahrungen und Adressierungen.   

Anhand des Fallvergleichs wird die Wirkmächtigkeit institutioneller und organisationaler Rahmungen der beruflichen Praxis aufgezeigt, die unterschiedliche Spielräume für die Rahmung der Adressierungsprozesse ermöglicht und in der Folge zu unterschiedlichen Passungsverhältnissen mit den Adressatinnen und Adressaten führt. Gleichzeitig weist Frau Bendel auf Herausforderungen und Chancen für Träger, Kursleitende, Angebotsgestaltende hin, differente Praxiserfahrungen als Impulse zur Neuausbalancierung des Spannungsverhältnisses von Normen und Rollen der eigenen Praxis und zur Modifizierung der konstituierenden Rahmung zu reflektieren und den Diskurs und das Netzwerk als Möglichkeiten zu nutzen, um Veränderungen auf der Ebene der organisationalen Rahmung anzustoßen. 

Gelingensbedingung: Mehrperspektivität

Vier Personen sitzen auf Hockern © BMBF / Heidi Scherm

Resümierend hält sie fest, dass der Ansatz der Mehrperspektivität eine entscheidende Gelingensbedingung für die Praxis darstelle. Dies impliziert die Anerkennung der entsprechenden Perspektiven einzelner Einrichtungen und Institutionen und der Orientierungen der Professionellen und Adressatinnen und Adressaten als auch eine dialogorientierte statt machtstrukturierter Ausgestaltung der Praxis sowie Habitussensibilität. Darüber wird es möglich, die Adressatinnen und Adressaten nicht nur in fragmentierten Einzelaspekten, sondern in ihren milieuspezifischen existenziellen Hintergründen wahrzunehmen und anzusprechen. Das führt dazu, dass deren persönliche Bedürfnisse und individuelle Biographien inhaltlich berücksichtigt und sie nicht durch die Organisationen fremdgerahmt werden, d.h. deren Logiken entsprechen müssen. Damit wird eine gelinge Adressierung und eine wechselseitige Anerkennung zwischen Kursleitenden sowie Adressatinnen und Adressaten erreicht, die Reziprozität impliziert und sich metaphorisch in „Arbeit als Geschenk“ ausdrückt.

Alphabetisierung ist ein Lebensthema

In der anschließenden Podiumsrunde führt Frau Schneider aus, dass für den partizipativen Forschungsansatz es entscheidend gewesen sei, wie man zu authentischen Zusammenhängen gelange. Bedeutsam gewesen sei das Finden einer gemeinsamen Sprache und auch das Formulieren einer gemeinsamen Forschungsfrage mit allen Akteurinnen und Akteuren an den jeweiligen Netzwerkstandorten im Rahmen der Studie. Das Land Sachsen engagiert sich im Feld der Alphabetisierung und Grundbildung bereits seit vielen Jahren. Frau Sepsi unterstützt den partizipativen Ansatz und sieht den Gewinn in der Betrachtung der Netzwerke der Akteure. Sie betont die Relevanz der Praxisnähe bei der förderpolitischen Ausgestaltung und den Rahmenbedingungen von Angeboten und entsprechenden einschlägigen Programmen.

Frau Dr. Pabst beschreibt die Verbindung des partizipativen Forschungsansatzes mit der Förderlogik und Zielen der AlphaDekade. Die Arbeit in den Forschungsgruppen hätten ihr zudem erreichbare Dynamiken in der Forschung und das Feld der Alphabetisierung und Grundbildung als persönliches und auch belastendes Thema für gering literalisierte Menschen nochmals verdeutlicht, wo es vor allem gelte, stets vorsichtig und sensibel vorzugehen. Allerdings lässt sich von allen bestätigen: Eine gewisse Kluft zwischen Politik und Praxis bleibt bestehen. Eine offene Frage bleibt, wie treffen sich die Lebenswelten von Adressatinnen und Adressaten sowie professionellen Akteurinnen und Akteuren als auch Forscherinnen und Forschern und wie lässt sich der gemeinsame Dialog gestalten? Frau Sepsi unterstreicht die Wichtigkeit, die Perspektive der anderen Akteurinnen und Akteure im Grundbildungsbereich wahrzunehmen. Für sie sind eine regelmäßige Reflexion und die Initiierung von Austauschen mit der Praxis äußerst wertvoll und für ihre Arbeit unerlässlich. Aber Beteiligte müssten einen Mehrwert für sich und ihre unmittelbare Arbeit in Grundbildungsnetzwerken erkennen.

Highlight im Forschungsprozess

Abschließend greift die Gruppe der Projektmitarbeitenden ihre unmittelbaren Erfahrungen mit dem partizipativen Forschungsansatz nochmals auf. Als Highlight hervorgehoben wurde vom Alpha-Lab-Projektteam die Erfahrung, wie ein einzelner Lernender wieder Lust am Lernen und an Kursangeboten verspüren – konnte ganz im Sinne des „Empowerment“. Als Fazit wird von den Forenbeteiligten anerkannt, dass Lebenswelt grundsätzlich kommunikativer und emotionaler gestaltet, Netzwerke erweitert und Brücken gebaut werden sollten. Eine Win-Win-Situation für jede Person, denn am Ende des Tages würden doch wir alle mit Literalität im Alltag ringen.

Moderation:

  • Prof. Dr. Silke Schreiber-Barsch, Universität Duisburg-Essen

Vortrag:

  • Juliane Bendel, Evangelische Hochschule Dresden
  • Dr. Melanie Benz-Gydat, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Diskussionsrunde:

  • Susanne Kiendl, Hamburger Volkshochschule
  • Dr. Antje Pabst, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg
  • Johanna Schneider, Evangelische Hochschule Dresden
  • Anna Karina Sepsi, Sächsisches Staatsministerium für Kultus

Ergebnispräsentationen im Vorfeld der Konferenz