„Die Nachfrage nach arbeitsorientierter Grundbildung in der Pflege wird in Zukunft noch weiter steigen“

Frage: Frau Dr. Ryssel, welche Rolle spielt arbeitsorientierte Grundbildung im Bereich der Pflege?

Dr. Regina Ryssel, Humboldt-Universität zu Berlin: Die arbeitsorientierte Grundbildung spielt eine sehr große Rolle. Sie ist deshalb so wichtig, weil die Anforderungen in der Pflege immer höher werden. Das hat einerseits mit der demographischen Entwicklung zu tun, andererseits aber auch mit dem medizinischen und technischen Fortschritt. Hinzu kommt die Reform der Pflegeberufe aus dem Jahr 2020. Dadurch wachsen die Anforderungen an alle Berufsgruppen in der Pflege noch einmal zusätzlich. Die Nachfrage nach arbeitsorientierter Grundbildung in der Pflege wird in Zukunft noch weiter steigen, weil viele der benötigten Kompetenzen zur Grundbildung gehören.

 

Frage: Welche Kompetenzen sind das konkret?

Dr. Regina Ryssel: Wir haben bei der Arbeit mit Lehrkräften festgestellt, dass es bei den Auszubildenden meistens Schwierigkeiten beim Leseverständnis und beim Rechnen gibt – aber eben auch bei digitalen Kompetenzen. Gerade dieser Bereich hat sich in der letzten Zeit rasant entwickelt, und da kommen viele einfach nicht mehr mit. Das betrifft nicht nur Auszubildende, sondern auch Menschen, die bereits als Hilfskraft in der Pflege arbeiten. Besonders wichtig ist auch die Kommunikation. Nicht nur die deutsche Sprache muss beherrscht werden, sondern auch die Pflege-Fachsprache. All diese Bereiche sind so wichtig, da in der Pflege keine Fehler passieren dürfen.

„Seit 2020 wurden die Module der INA-Pflege-Toolboxen fast 50.000-mal heruntergeladen“

Frage: Welche Gründe gibt es noch dafür, dass der Bedarf an arbeitsorientierter Grundbildung in der Pflege so hoch ist?

Dr. Regina Ryssel: Wir haben Fachkräftemangel in der Pflege. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn man kann nicht einfach ‚nur‘ überlegen, wie man den Pflegekräften hilft, die schon im Beruf sind, sondern wir müssen auch überlegen, wie wir zusätzliche Pflegefachkräfte gewinnen. Wir brauchen in Deutschland generell mehr Pflegefachkräfte, aber insbesondere auch mehr ausgebildete Pflegehilfskräfte. Das wird aus dem Rothgang-Gutachten deutlich. Es gibt viele Einrichtungen mit gering qualifizierten Beschäftigten, die teilweise lange aus dem Schulalltag heraus sind, die sich jetzt aber weiterbilden müssen. Da gibt es große Bedarfe bei den Grundkompetenzen, die nachgeholt werden müssen. Und dafür bietet sich arbeitsorientierte Grundbildung an. Damit das funktioniert, sensibilisieren wir an den Pflegeschulen für das Thema Grundbildung und geben den Lehrkräften speziell zugeschnittene Materialien an die Hand. Damit können sie niedrigschwellig und in einfacher Sprache fachlich orientiert unterrichten.

 

Frage: Wie nehmen die Lehrkräfte das denn an?

Dr. Regina Ryssel: Seit 2020 wurden die Module der INA-Pflege-Toolboxen fast 50.000-mal heruntergeladen. Die Lehrkräfte nehmen es also sehr gut an. Das ist für uns ein klares Zeichen, dass wir da die richtige Herangehensweise haben. Darauf können wir schon stolz sein. Und natürlich gibt es auch direkte Rückmeldungen von Lehrkräften, die mit unseren Materialien arbeiten. Auch aus anderen Bundesländern als Berlin, wo wir beheimatet sind. Lehrkräfte greifen gerne auf solche Materialien zurück, bspw. ist auch „Guten Morgen Herr Schabulke“ der Lernenden Region – Netzwerk Köln e.V. sehr bekannt und beliebt.

„Das Tabu bricht auf, aber es gibt auch noch Strukturen, in denen ‚Pflege‘ und ‚Grundbildung‘ nicht gerne verbunden werden“

Frage: Ist geringe Literalität denn in der Pflege noch ein Tabu?

Dr. Regina Ryssel: In den Einrichtungen und Pflegeschulen ist es kein Tabu mehr. Da wird geringe Literalität inzwischen häufiger und offener angesprochen. Aber es ist auch erst zwei bis drei Jahre her, dass wir einer Fachzeitschrift einen Artikel zum Thema geringe Literalität angeboten haben und dieser mit äußerst deutlichen Worten abgelehnt wurde: In der Pflege gäbe es keine Erwachsenen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten. Wie wir denn auf so etwas überhaupt kämen… Jedoch wurde dieses Jahr unser Artikel zur Etablierung von Grundbildungspfaden für die Pflegefachassistenz in einer Pflegezeitschrift veröffentlicht. Das Tabu bricht auf, aber es gibt auch noch Strukturen, in denen ‚Pflege' und 'Grundbildung‘ nicht gerne verbunden werden, weil sich die Branche in einem schlechten Licht dargestellt sieht oder Pflegekräfte sich stigmatisiert fühlen.

 

Frage: Was hat sich denn durch die AlphaDekade in den vergangenen Jahren verändert?

Dr. Regina Ryssel: Die AlphaDekade hat eine Menge bewirkt. Insbesondere bei der Sensibilisierung für das Thema mangelnde Grundkompetenzen bei Erwachsenen. Dieses Bewusstmachen, dass es geringe Literalität in Deutschland überhaupt gibt, dass sie auch unter Erwachsenen mit Deutsch als Erstsprache verbreitet ist – da hat auch die LEO-Studie 2018 der Universität Hamburg enorme Vorarbeit geleistet. Im Pflegebereich ist es angekommen, auch in der Politik ist das Thema Grundbildung mittlerweile bekannt. Das hat die AlphaDekade angestoßen.

 

Frage: Wie steht die Pflegebranche dazu, dass arbeitsorientierte Grundbildung zur Fachkräftesicherung beitragen kann?

Dr. Regina Ryssel: Wenn man mit den Einrichtungen spricht, ist denen natürlich bekannt, dass besser ausgebildete Mitarbeitende weniger Fehler machen, zufriedener sind und dass zufriedene Mitarbeitende eher bleiben. Die Frage ist, wie kann Weiterbildung in dieser eng getakteten Branche umgesetzt werden und werden Zeit und Mittel dafür bereitgestellt. In Berlin und Brandenburg, wo wir hauptsächlich tätig waren, werden unsere Angebote angenommen und sowohl die Senatsverwaltungen für Bildung (SenBJF) oder für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege (SenWGP) in Berlin als auch das Ministerium für Gesundheit und Soziales des Landes Brandenburg (MGS) zeigen sich für Vorschläge offen. Aber man muss so ein Netzwerk auch kontinuierlich pflegen und das Thema auf Flamme halten.

„Wir müssen alle Systemebenen mitnehmen“

Frage: Was muss denn getan werden, um arbeitsorientierte Grundbildung in Strukturen zu integrieren?

Dr. Regina Ryssel: Wir müssen alle Systemebenen mitnehmen. Die Einrichtungen und Pflegeschulen sind schon mittendrin – der politischen Ebene sollte man es immer mal wieder in den Fokus rücken. Ich bin aber nicht sicher, ob überall angekommen ist, dass man für Grundbildung auch die finanziellen Mittel bereitstellen muss. Ebenso ist es notwendig, die Lehrkräfte mitzunehmen und anschlussfähige Maßnahmen zu gewährleisten. Pflegeeinrichtungen sollten wissen, welche Weiterbildungsmöglichkeiten es gibt. Akteure wie Volkshochschulen oder Jobcenter sollten ebenfalls von diesen Angeboten wissen. Viele Netzwerke bestehen schon, es muss aber noch eine Art ‚Handschlag‘ zwischen den einzelnen Institutionen erfolgen, um die Zusammenarbeit verbindlicher zu gestalten.

 

Frage: An dieser Stelle setzen Sie ja mit dem neuen Projekt GriPs an…

Dr. Regina Ryssel: Wir entwickeln im Projekt einen Pfad, der vom Jobcenter über die Kreisvolkshochschule Stralsund bis hin in das Regionale Berufliche Bildungszentrum reicht. Wir ermitteln zunächst, welche Kompetenzen von den Teilnehmenden erwartet werden, um eine Pflegefachassistenzausbildung anfangen zu können. Darauf aufbauend ergänzen wir das bestehende Angebot der Kreisvolkshochschule mit einem Grundbildungsangebot für Hilfs- und Assistenzkräfte in der Pflege, der diese Bedarfe abdeckt.  Wir entwickeln zudem ein Blended-Learning-Angebot für Lehrkräfte rund um das Thema ‚Grundbildungssensibel unterrichten‘. Und darüber hinaus möchten wir ‚Grundbildungslotsinnen und -lotsen‘ etablieren, die die Angebote der einzelnen Institutionen kennen, miteinander verknüpfen und für die Zielgruppe transparent machen.

 

Frage: Warum ist das so wichtig?

Dr. Regina Ryssel: Auf dem Bildungsweg zwischen Jobcenter, Volkshochschule oder Bildungszentrum/Ausbildungsplatz gehen viele Menschen in einen Grundbildungs- oder Sprachkurs, in einen Integrationskurs oder in einen Kurs, um den Schulabschluss nachzuholen. Aber es gehen dabei auch noch einige Menschen ‚verloren‘. Das hat viel mit Motivation, Angst, ob man den Kurs denn wirklich schafft, oder den Rahmenbedingungen zu tun: Stichwort Kinderbetreuung oder lange Anfahrtswege in ländlichen Gebieten. Wenn es da ‚Grundbildungslotsinnen und -lotsen‘ gibt, die die Menschen beraten, unterstützen und Brücken zwischen den verschiedenen Lernorten bauen – dann ist schon viel gewonnen.