Es ist ein gewöhnlicher Dienstagmorgen. Elf Menschen sitzen in Berlin-Kreuzberg an einem Tisch und sollen zusammentragen, was sie an diesem Tag bereits gelesen haben: Handy-Nachrichten und E-Mails, den Fahrplan der U-Bahn, eine Bedienungsanleitung für die Kaffeemaschine. Die meisten überlegen, bevor sie antworten. Lesen ist für sie so selbstverständlich, dass sie kaum wahrnehmen, wie oft sie es bereits getan haben, wenn sie morgens ihren Arbeitsplatz erreichen.
Wie funktioniert eigentlich ein Alltag ohne Schriftsprache?
Nun sollen diese elf Menschen lernen, wie die Welt funktioniert, wenn Schriftsprache nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung steht. Das Mehrgenerationenhaus (MGH) an der Gneisenaustraße hat sie im Rahmen des Sonderschwerpunkts zu einem Workshop eingeladen, der sie für den Alltag und die Bedürfnisse von Menschen sensibilisiert, die nicht richtig lesen und schreiben können. Die Teilnehmenden sind im MGH oder im Stadtteilzentrum „Nachbarschaftshaus Urbanstraße e.V.“ beschäftigt. Dort beraten sie zu Themen wie Schulden oder zu sozialen Fragen. Sie begleiten Menschen, die eine Maßnahme des Jobcenters absolvieren. Oder sie haben immer wieder mit unleserlichen Urlaubsanträgen ihrer eigenen Beschäftigten zu tun. „Ich werde dann schnell ungeduldig“ sagt eine Teilnehmerin, die im Personalbüro arbeitet. „Ich würde das gern besser verstehen.“
Anne Schöbel ist aus dem Berliner Grundbildungszentrum gekommen, um grundlegendes Wissen darüber zu vermitteln, wie Menschen leben, die nicht richtig lesen und schreiben können. Zu Beginn ihres Vortrages haben die Teilnehmenden die Arme auf den Tisch gestützt oder sich in den Stühlen zurückgelehnt. Sie sind neugierig, offen – und überzeugt davon, dass es hier um die Probleme anderer geht.
Betroffene spüren die Gefühle ihres Gegenübers – und ziehen sich zurück
Zehn Minuten später ahnen sie, dass auch sie involviert sind, obwohl sie selbst lesen und schreiben können. Anne Schöbel liefert Zahlen. In der Stadt Berlin können mehr als 300.000 Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben. Das sind mehr Menschen, als der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg Einwohner hat. Die meisten dieser Menschen haben einen Schulabschluss. Dennoch vererben sich Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben von Generation zu Generation. Stimmen erheben sich. „Wie geht das denn?!“, entfährt es einer Teilnehmerin. Zur entspannten Neugier wird die Gruppe an diesem Tag nicht mehr zurückfinden.
Anne Schöbel hat diesen Verlauf des Workshops eingeplant. Sie will nicht nur zeigen, dass Schwierigkeiten mit Schriftsprache in Deutschland weit verbreitet sind. Sie will auch einen Zugang zu den Emotionen von Menschen schaffen, die sich selbst allenfalls als Zeugen begreifen, weil in ihrem Alltag Schriftsprache selbstverständlich ist. Auch diese Menschen reagieren mit Unsicherheit, Scham und Abwehr. Sie bemerken das aber selten.
In der sozialen Beratung könne das heikel sein, sagt Anne Schöbel. „Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, entwickeln ganz eigene Strategien, sich in der Welt zu orientieren. Viele sind geübt darin, die Stimmungen anderer zu erspüren.“ Ist da Unsicherheit oder Ungeduld, ziehen sich die Betroffenen schnell zurück.
Weg von der Schuldfrage, hin zu den Stärken
Diese Erfahrung bestätigt Ute Holschumacher, die den Workshop als Lerner-Expertin begleitet. Mehr als 50 Jahre lang hat sie ihren Alltag ohne Schriftsprache bewältigt. Beschämend sei es gewesen, aus einer Beratung zu kommen und zu wissen: Ihr Gegenüber hat verstanden, was los ist und dennoch nichts gesagt. Irgendwann fasste Ute Holschumacher den Mut, sich der Mitarbeiterin im Jobcenter anzuvertrauen. „Sie hat das einfach akzeptiert, mir einen Kontakt vermittelt und einen Kurs bewilligt. Da war ich sehr erleichtert.“
Anne Schöbel sagt, dass sie den Workshop notfalls ohne Technik halten könne, aber niemals ohne Betroffene. Über ihre Geschichten trete die Schuldfrage in den Hintergrund. Stärken gewinnen an Bedeutung. Im Workshop lässt sie zusammentragen, welche gewaltigen Ressourcen nötig sind, um mangelnde Lese- und Schreibkompetenzen über viele Jahrzehnte zu kaschieren: Kreativität, Vertrauen, ein fotografisches Gedächtnis.
Wer Bescheid weiß, kann mehr erreichen
Carla Miranda, die Leiterin des MGH Gneisenaustraße in Kreuzberg, möchte diese Ressourcen besser für die soziale Beratung nutzen. Mit diesem Ziel hat sie sich für den Sonderschwerpunkt im Rahmen der AlphaDekade beworben. Regelmäßig kommen fünf, sechs Menschen in das MGH, die offen sagen, dass sie nicht richtig lesen und schreiben können. Bei rund 20 weiteren liegt nahe, dass sie im Alltag vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen. Carla Miranda sieht das MGH als Brücke zwischen diesen Menschen und den vielfältigen Lernangeboten im Kiez. „Das geht aber nur, wenn möglichst viele Beraterinnen und Berater in der Lage sind, ihre Annahmen, ihre Emotionen und ihr Verhalten zu reflektieren.“
Andernfalls laufe im Hintergrund stetig ein Faktor mit, der gleichermaßen bremsend wie ungreifbar sei. Nichts gehe voran. Frustriert seien darüber nicht nur die Betroffenen. „Die meisten Menschen, die bei uns beraten, wollen mit ihren Klientinnen und Klienten wirklich etwas erreichen.“ Carla Miranda glaubt, dass das durch den Workshop leichter wird.
Das Mehrgenerationenhaus Gneisenaustraße
- Das Mehrgenerationenhaus Gneisenaustraße ist ein nachbarschaftlicher Treffpunkt für Menschen aller Generationen und Kulturen. Es bietet Raum für Austausch, Information und Vernetzung im Kiez. Ziel ist es, das Wissen und die Potenziale aller Generationen an einem Ort zusammenzubringen.
- Angebote im Rahmen des Sonderschwerpunkts „Förderung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen“: ein offener Lerntreff, PC-Arbeitsplätze zum selbstbestimmten Lernen, Infostände auf den Stadtteilveranstaltungen, Aktionswochen zum Weltalphabetisierungstag.
- Das MGH ist Gründungsmitglied des Alpha-Bündnisses Friedrichshain-Kreuzberg. Dessen Ziel ist es, in öffentlichen Einrichtungen für funktionalen Analphabetismus zu sensibilisieren.