Gotha: Video „Es geht auch anders!“

Ein Mann mit Bart schreibt auf einem Block © BMBF/Seydel
26 helfende Hände stellt das Video vor – eine für jeden Buchstaben, der nicht zur Verfügung steht.

Wenn am Samstag die Rathausuhr zweimal schlägt, leert sich der Hauptmarkt in Gotha innerhalb kürzester Zeit. Die Läden schließen. Menschen eilen nach Hause. Umso irritierender ist der Tumult, der sich plötzlich vor den üppigen Barockfassaden bildet. „RUHEEEEEEEE“, schreit eine junge Frau in seiner Mitte. „Das“, sagt sie, sie formt das Wort wie aus Beton und hält eine Fibel in die Höhe, „sind Eure 26 Freunde.“ Kurze Pause. „Jetzt zeige ich Euch 26 meiner Freunde.“

„Okay, im Kasten.“ Der Mann hinter der Kamera, Klaus Merbach, nickt. Wieder ist eine Szene abgedreht, nach gut einem Dutzend Anläufen.

Nicht nur gering Literalisierte sollen etwas ändern müssen

Zufrieden ist auch Julia Krebs, die sich aus dem Pulk löst und in Richtung des historischen Lucas-Cranach-Haus läuft, in dem das MGH seinen Platz gefunden hat. Hier koordiniert die angehende Sozialpädagogin und Mentorin für Alphabetisierung und Grundbildung den Sonderschwerpunkt „Förderung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen“. Sie organisiert gemeinsame Einsätze mit dem ALFA-Mobil. Sie leitet den wöchentlichen Lerntreff „Kopf-Café“. Außerdem gibt es Vorlese-Aktionen in der Sofaecke, eine Beratung zum Umgang mit Behördenpost und eine Eltern-Kind-Runde für Familien.

Eine Frau liest ein einer Bibliothek in einem Buch, rechts daneben blickt eine Frau in die Kamera © BMBF/Seydel
Abiturientin Doreen (r.) spielt in ihrer Freizeit Theater. Für das Video des MGH Gotha ist sie in die Rolle einer jungen Frau geschlüpft, die nicht richtig lesen und schreiben kann. Im Video zeigt sie, wer ihr im Alltag hilft: zum Beispiel die Bibliothekarin, die ihr aus dem Lexikon vorliest.

Das aber reicht Julia Krebs nicht. „In der Regel vermittelt Alphabetisierung den Betroffenen, dass sie etwas in ihrem Leben ändern müssen.“ Normalerweise jedoch empfinden auch Menschen mit geringer Literalität ihren Alltag als für sie passend. „Wir müssten viel besser wissen, wie so ein Alltag ohne Schriftsprache funktioniert. Dann könnten wir auch besser einschätzen, welche Hilfe nötig ist und angenommen werden kann.“

26 Buchstaben, 26 Alternativen

An einem Samstag im März 2019 entsteht daher in Gotha ein Video, das diesen Alltag zeigt. Ausdauernd hat die Projektgruppe Ideen gesammelt, diskutiert und wieder verworfen. Am Ende hat sie sich für folgende Geschichte entschieden: Eine junge Frau aus Gotha kann nicht richtig lesen und schreiben. Wo ihr 26 Buchstaben nicht weiterhelfen, hat sie sich 26 Alternativen organisiert. Das ist etwa die Apothekerin, die ihr den Beipackzettel erklärt. Dazu gehört die Bibliothekarin, die aus dem Lexikon vorliest. Und es gibt den Freund, der ihr sagt, welche Zutaten sie für ein besonderes Kochrezept einkaufen muss. Jede auftretende Person hat einen Namen, um sie lebendig werden zu lassen.

All diese Situationen werden in dem Video zu sehen sein. Deshalb wirkt es schon, bevor die erste Szene im Kasten ist. Julia Krebs und Regisseur Christian Mark haben den Dreh so öffentlich wie möglich organisiert. Die meiste Arbeit stemmt das MGH mit Menschen aus und an Orten in Gotha. Die Hauptdarstellerin ist Abiturientin, die im Theaterverein tätig ist. Die Apothekerin und die Bibliothekarin spielen sich selbst. Nur den Kameramann und den Regisseur hat das MGH engagiert. Unzählige Telefonate haben Julia Krebs und Christian Mark im Vorfeld geführt. Sie haben Mitwirkende überzeugt und Drehgenehmigungen eingeholt. „Dabei habe ich so viele gute Gespräche über funktionalen Analphabetismus geführt, wie noch nie in dieser Stadt“, sagt Julia Krebs.

Eine Apothekerin liest einen Beipackzettel vor, ein Tontechniker hält ein Mikrofon über die Köpfe der Schauspielerinnen © BMBF/Seydel
Zum Kreis der Helfenden gehört auch die Apothekerin, die den Beipackzettel ihrer Medizin erklärt.


Auch Uta Hoge-Hartmann hat sie überzeugt, aus ihrem Reformhaus einen Drehort zu machen. Immer wieder mal kommen Kunden in den Laden, die bedauern, ihre Brille vergessen zu haben. „Ich denke mir dann schon, dass es wohl eher mit dem Lesen und Schreiben nicht so richtig klappt“, sagt Ute Hoge-Hartmann. Bisher habe sie nicht genau gewusst, was sie dann sagen soll. Jetzt weiß sie, dass sie instinktiv richtig liegt. Meist bringt sie Humor in die Situation und hilft ansonsten einfach weiter. „Vielleicht lege ich jetzt auch ein paar Flyer vom MGH aus. Das ist ja gleich gegenüber.“

Die halbe Stadt ist an dem Video interessiert

Es ist schon lange dunkel, als das Team die letzte Szene des Videos im Kasten hat. Mehr als 14 Stunden Dreh liegen hinter Schauspielerin, Kameramann und all den Ehrenamtlichen, die geholfen haben. Erschöpft räumen sie auf und gehen nach Hause. Julia Krebs muss sich überlegen, wo das Video gezeigt werden soll. Eine kleine Aufführung im MGH ist geplant. Wenn alles klappt, kommt der Film auf die Online-Portale der lokalen Medien. „Richtig gut wäre, wenn unser Kino das Video ab und zu zeigt.“

Eine junge Frau steht an einer Wand und lehnt am Eingang eines Mehrgenerationenhauses © BMBF/Seydel
Julia Krebs koordiniert im MGH Gotha die Angebote im Rahmen des Sonderschwerpunkts. Mit dem Video will sie aber Menschen erreichen, die lesen und schreiben können. Sie sollen besser in der Lage sein, auf die vorhandenen Lernformate in Gotha hinzuweisen.


Sicher sein kann sich Julia Krebs aber schon jetzt, dass die wichtigsten Menschen in Gotha hinschauen werden: die Schlüsselfiguren in Politik, Verwaltung und öffentlichen Einrichtungen, die in die Vorbereitung eingebunden waren. Hinzu kommen die Passanten, die stehengeblieben sind und die Kunden, die beim Einkaufen unverhofft in einen Dreh geraten sind. Sie alle waren dabei, als das Video gedreht wurde. Viele wollen wissen, was daraus geworden ist.

Gotha hat knapp 46.000 Einwohner. Filme über die Stadt erreichen auf Kanälen wie YouTube regelmäßig vierstellige Klickzahlen. Julia Krebs hofft, dass ihr das auch mit ihrem Video gelingt. „Soweit haben wir am Anfang zwar gar nicht gedacht. Aber nun sind wir froh, dass sich das Projekt so gut entwickelt hat.“

Das Mehrgenerationenhaus in Gotha

  • Das Mehrgenerationenhaus in Gotha ist ursprünglich eine Elterninitiative. 1998 gründeten 12 junge Eltern den lebensart e.V., um einen Ort der Begegnung und des Austauschs für Familien zu schaffen. Nach und nach kamen weitere Angebote hinzu: Kurse, von Rückbildungsgymnastik bis Yoga, ein Repaircafé sowie eine Medienwerkstatt. Das Haus ist offen für Selbsthilfegruppen aller Art.
  • 2017 zog das MGH in das historische Lucas-Cranach-Haus am Hauptmarkt. Einen Großteil der Sanierung hat der Trägerverein selbst organisiert.
  • Seit 2018 erhält das MGH im Rahmen der AlphaDekade Mittel für die Umsetzung des Sonderschwerpunkts „Förderung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen“ im Bundesprogramm Mehrgenerationenhaus.
  • Angebote des MGH im Sonderschwerpunkt sind: eine wöchentliche Beratung zum Umgang mit Behördenpost, ein Sammelprojekt mit den Lebensgeschichten gering literalisierter Menschen, eine Eltern-Kind-Runde, ein Kopf-Café und öffentliche Aktionen zum Thema.
  • Das MGH ist Netzwerkpartner im Praxisprojekt MENTO der AlphaDekade und Mitglied im Thüringer Bündnis für Alphabetisierung und Grundbildung.