Hamburg-Hohenhorst: Lerncafé

Blick von oben auf drei Frauen an einem Tisch, die ein Lernspiel spielen © BMBF/Haarmann
Zur Auswahl stehen verschiedene Lernmaterialien – wie etwa das Bilder-Spiel zum Thema gesunde Ernährung.

Noch schirmen große Planen jeden Blick ab. Schon bald aber soll das Café HORST im „Haus am See“ im Hamburg einer der schönsten Orte zum Lernen sein. Bodentiefe Fenster, Terrasse zum See, Zugang in den Park: „Hier sind wir mit dem Lerntreff mittendrin“, sagt Yukiko Takagi-Possel, Koordinatorin des Sonderschwerpunkts „Förderung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen“. Sie findet, dass mittendrin ein angemessener Ort ist, um als Erwachsener Lesen und Schreiben zu lernen.

Viele Besucherinnen und Besucher des MGH können nur wenig lesen und schreiben

Seit sieben Jahren gibt es das MGH „Haus am See“ am östlichen Rand von Hamburg. Der helle Holzbau liegt am Schnittpunkt der Siedlungen Hohenhorst, Jenfeld und Billstedt. Etwa 100.000 Menschen leben hier. Viele von ihnen sind im Alltag auf Unterstützung angewiesen. Das MGH hat dafür zahlreiche Angebote geschaffen: Im „Haus am See“ gibt es eine Sozialberatung, einen Seniorentreff und eine Kindertagesstätte, ein Selbstlernzentrum, eine Elternschule, Berufsberatung, Kochkurse und gemeinsamen Sport.

Ein Zettel an einer offenen Tür © BMBF/Haarmann
Der offene Lese- und Schreibtreff ist seit Januar 2018 ein Angebot des MGH Haus am See in Hamburg-Hohenhorst. Es handelt sich um ein Lerncafé, in dem Menschen ohne Druck ihr Lesen und Schreiben verbessern können.


Immer wieder fallen dabei Erwachsene auf, weil sie Behördenpost oder Verträge nicht verstehen, Schulden anhäufen oder mit den Hausaufgaben ihrer Kinder überfordert sind. Daher hat sich das MGH für die Sonderförderung im Rahmen der AlphaDekade beworben. Im Januar 2018 lud Yukiko Takagi-Possel zum ersten offenen Lese- und Schreibtreff ein.

Der zwanglose Treff soll Anbindung schaffen und Lernängste abbauen

Drei, vier, manchmal sechs Personen kommen nun Freitagvormittags im Seminarraum zusammen. Yukiko Takagi-Possel hat dann Kaffee, Tee und Kekse auf den Holztisch gestellt. Lernmaterial liegt griffbereit. Es gibt Lehrbücher und Kartenspiele, Arbeitsblätter und Zeitschriften in einfacher Sprache. Leises Gemurmel liegt in der Luft. Yukiko Takagi-Possel geht mit Yang* aus China ein Aufgabenblatt durch. Elnaz* aus Afghanistan klickt sich durch eine Lern-App und seufzt. „Yuki, kannst du mir mal helfen?“ fragt sie. „Hier ist ein Wort, das verstehe ich einfach nicht.“

Eine Frau schaut auf ihr Handy © BMBF/Haarmann
Aber auch digitale Angebote sind in das offene Training eingebunden. Die Teilnehmenden dürfen auch mitbringen, was sie interessiert: Briefe, Zeitschriften, Rezepte.


Yukiko Takagi-Possel ist auf alles vorbereitet. Sie kann Menschen ohne jegliche Schriftsprachkompetenz ebenso gut helfen, wie solchen, die schon recht gut lesen und schreiben können. Sie unterstützt bei Bewerbungsschreiben, hilft beim Lesen der Kontoauszüge oder korrigiert Antworten an Behörden. Zum Lerntreff darf jeder mitbringen, was im Alltag gerade Thema ist. Anwesenheitspflichten, Hausaufgaben, Prüfungen – all das gibt es nicht. „Wir wollen die Menschen mit Lernbedarf überhaupt erst einmal einbinden und ihnen die Angst vor dem Lernen nehmen“, sagt Yukiko Takagi-Possel. „Ein Lerntreff ist etwas ganz anderes als ein fester Kurs.“

Auch das Umfeld will das MGH besser einbinden

Feste Kurse gibt Yukiko Takagi-Possel seit 10 Jahren an der Volkshochschule Hamburg. Viele der Lernenden dort setzen sich lange mit ihren Schwierigkeiten auseinander, bevor sie sich zur Anmeldung an der Volkshochschule entschließen. Das Umfeld spiele dabei eine entscheidende Rolle, sagt die Pädagogin. Den Ausschlag geben oft vertraute Menschen, die hartnäckig bleiben, Mut machen und auf Lernangebote hinweisen. „Das wollen wir hier vom Zufall lösen, indem wir im MGH dauerhaft eine solche Unterstützung schaffen.“

Eine Frau erklärt mit ausgebreiteten Armen © BMBF/Haarmann
Yukiko Tagaki-Possel leitet im MGH Haus am See die Lernangebote im Rahmen des Sonderschwerpunkts. Im Unterschied zu den Kursen an der Volkshochschule gibt es weder feste Lehrpläne noch Prüfungen. Die offene Atmosphäre soll Menschen dabei unterstützen, Angst vor dem Lernen zu überwinden.


Der anfängliche Kontakt ergibt sich vor allem in der Sozial- oder Familienberatung. Dennoch ist es auch für das MGH schwer, diesen Kontakt in eine Teilnahme am Lerntreff münden zu lassen. Elnaz aus Afghanistan ist fast jede Woche da. Sie lebt seit 12 Jahren in Hohenhorst und lehrt afghanischen Kindern in der Nachbarschaft das Lesen und Schreiben in ihrer Muttersprache. Zum Lerntreff kommt sie, um ihr Lesen und Schreiben im Deutschen zu verbessern. „Ich finde das Angebot super, weil ich es gut mit meiner Familie vereinbaren kann“, sagt sie.

Deutsche Muttersprachler hingegen sind selten da, obwohl Yukiko Takagi-Possel unablässig zur Gewinnung neuer Teilnehmer unterwegs ist. Im „Haus am See“ sitzt sie regelmäßig im Wartebereich der Sozialberatung, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Sie bietet feste Termine an, um Behördenpost gemeinsam zu bearbeiten. „Das wird auch ganz gut angenommen“, sagt sie. „Aber in den Lerntreff kommen die Menschen dann lediglich ein oder zwei Mal, wenn überhaupt.“

Das große Ziel: Unterschiedliche Literalität zum normalen Alltag machen

Also wird Yukiko Takagi-Possel den Radius erweitern. Sie will im Jobcenter und im Bürgeramt anrufen, um den Lerntreff bekannt zu machen. Manchmal klingelt sie an Arztpraxen, um Flyer im Wartezimmer auslegen zu dürfen. Oft ist das mühsam. „Viele sagen zwar, dass sie Menschen kennen, die nicht richtig lesen und schreiben können. Aber den wenigsten ist bewusst, was sie selber tun könnten, um diese Menschen zum Lernen zu motivieren.“

Auch deshalb hofft Yukiko Takagi-Possel auf den Umzug in das neue Café. Sie will mit dem Lerntreff sichtbar sein, und zwar dort, wo sich im Kiez der Alltag abspielt. Auch das ist im „Haus am See“ eine Funktion des Lerncafés: Normalität schaffen, Tabus knacken, Scham abbauen. „Wenn wir das an diesem Ort erreichen können, sind wir einen großen Schritt weiter.“

Das Mehrgenerationenhaus „Haus am See“

  • Das „Haus am See“ in Hamburg-Hohenhorst versteht sich als Community-Center und beherbergt unterschiedliche Träger aus dem Sozial-und Bildungsbereich: Erziehungshilfe, Berufsberatung, Senioren-Treff, eine Kita und ein Selbstlernzentrum der Volkshochschule. Seit 2017 wird die Einrichtung im Bundesprogramm Mehrgenerationenhaus vom Bundesfamilienministerium gefördert.
  • Angebote des MGH im Sonderschwerpunkt „Förderung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen“ sind: der wöchentliche offene Lese- und Schreibtreff sowie eine wöchentliche Beratung „Lesen und Verstehen von Briefen und Formularen“.