Noch nie, sagt Ingeborg Much* in die Runde, habe sie im Internet ein Passwort eingegeben. „Früher hat mein Mann das mit dem Online-Banking gemacht.“ Seit seinem Tod steigt die Rentnerin in den Bus, fährt über zwei Dörfer nach Gerolstein und stellt sich bei der Sparkasse in die Schlange. „Das nervt natürlich. Aber im Internet sehe ich nicht durch.“
Einmal will sie es doch versuchen. Deshalb ist Ingeborg Much ins Mehrgenerationenhaus nach Gerolstein gekommen. „Fit fürs Online-Banking“ steht auf dem Programm. Das MGH hat Andreas Bauer eingeladen. Bei der Kreissparkasse Vulkaneifel leitet er den Bereich Online-Vertrieb. Andreas Bauer plant und realisiert das Webportal und die Banking-App der Sparkasse. Zwölf Teilnehmenden soll er an diesem Abend erklären, wie man sich in die App einloggt, was eine TAN ist und ob es passieren kann, dass ein Wildfremder einfach das Konto abräumt.
„Gehen Sie denn online einkaufen?“, will Andreas Bauer wissen. Fast alle Teilnehmenden nicken. „Und wie bezahlen Sie?“ Viele machen es wie Ingeborg Much und tragen die Überweisung zur Bank.
Viele Menschen sind unsicher im Umgang mit Online-Banking
Die Unsicherheit, online Geld zu überweisen, ist Rita Novaki bei vielen Menschen in Gerolstein aufgefallen. Oft stecken dahinter Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben. Das belegen auch die Ergebnisse der LEO-Grundbildungsstudie 2018. Wer nicht ausreichend lesen und schreiben kann, benutzt demnach seltener als andere einen Computer mit Internetanschluss und meidet Angebote wie Online-Banking oder Online-Verkäufe.
Aber auch anderen Menschen falle es schwer, Vertrauen in digitale Bezahlportale zu fassen, sagt Rita Novaki. Unter den Teilnehmenden des Workshops sind auch eine ehemalige Sekretärin und eine pensionierte Lehrerin. „Es gibt viele persönliche Gründe, warum Menschen bei bestimmten Themen unsicher sind. Oftmals ist es wenig sinnvoll, Lernangebote nach diesen Gründen zu trennen“, sagt Rita Novaki. Im Gegenteil: „Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, tut es häufig gut zu sehen, dass sie mit ihren alltäglichen Herausforderungen nicht alleine sind.“
Viele Interessierte, aber ein Alphabetisierungskurs kommt selten zustande
Seit 2013 ist Rita Novaki Regionalkoordinatorin des landesweiten Kompetenznetzwerks Grundbildung und Alphabetisierung Rheinland-Pfalz (GrubiNetz). Sie hat Menschen auf Arbeitssuche betreut, die kaum ein fehlerfreies Anschreiben erstellen konnten. Ins MGH kommen Eltern, die ihren Kindern nicht mit den Hausaufgaben helfen können und Menschen, die Amtsbriefe nicht verstehen. Doch ein Alphabetisierungskurs kommt in Gerolstein selten zusammen. „Für viele Betroffene steht nicht an erster Stelle, dass sie nicht lesen und schreiben können“, sagt Rita Novaki. „Sie haben sehr konkrete und alltägliche Probleme, mit denen sie sich im besten Fall an uns wenden.“
Daher will Rita Novaki das Mehrgenerationenhaus zum Mittelpunkt eines breiten Netzwerks machen, das Lebenshilfe und Grundbildung vereint. Sozialberatung, Sportangebote, ein Mittagstisch, ein Trauercafé, Sprachkurse und Kinderbetreuung – all das gibt es im MGH schon lange. Die haupt- und ehrenamtlichen Kräfte wissen nun aber auch, wie sie Menschen erkennen, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben. Sie können diese Menschen erkennen, ansprechen und zu Rita Novaki schicken.
Gemeinsames Lernen soll die Hemmschwelle abbauen
Rita Novaki schlägt dann eine geeignete Maßnahme vor. So gibt es im MGH Gerolstein etwa das offene Lerncafé. Dort können Menschen unter Anleitung Behördenpost oder Bewerbungen erledigen. Und es gibt Workshops wie „Fit fürs Online-Banking“. Hier kann jeder lernen, der will. Niemand muss dabei offenlegen, wie schwer ihm oder ihr das Lesen und Schreiben fällt. Zwei Frauen sind gekommen, die auch das offene Lerncafé besuchen. Von ihren Schwierigkeiten weiß neben ihnen selbst nur Rita Novaki. „Heute Abend spielt das keine große Rolle. Aber wir haben hier die Möglichkeit, Menschen über konkrete Themen dafür zu öffnen, auch an ihrem Lesen und Schreiben etwas zu verändern.“
Rita Novaki schätzt, dass das MGH rund 20 Menschen monatlich erreicht, die zur Zielgruppe des Sonderschwerpunkts „Förderung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen“ gehören. Viele von ihnen kommen immer wieder, sind ehrenamtlich tätig oder nutzen neben den Lernangeboten des MGH auch andere Treffen oder Kurse. Keine andere Einrichtung in der Vulkaneifel habe mehr Zugang zu Menschen, denen das Lesen und Schreiben im Alltag schwerfällt, sagt Rita Novaki.
In einer derart offenen Atmosphäre werde ein Alphabetisierungskurs irgendwann so selbstverständlich sein wie Pilates oder Kochen, hofft sie. „Wir müssen erst einmal akzeptieren, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die nicht richtig lesen und schreiben können. Dann werden diese Menschen kommen und mit uns gemeinsam lernen.“
*Name geändert
Das Mehrgenerationenhaus in Gerolstein
- Das Mehrgenerationenhaus in Gerolstein in Trägerschaft des Caritasverbandes Westeifel e.V. ist seit 2008 ein offener Treffpunkt für Menschen jeden Alters und wird seitdem im Bundesprogramm Mehrgenerationenhaus vom Bundesfamilienministerium gefördert. Die Besucherinnen und Besucher sollen sich ungezwungen begegnen und miteinander reden, spielen, lernen und Ideen entwickeln. Dafür gibt es einen offenen Mittagstisch, Sozialberatung und einen Pflegestützpunkt, Eltern-Kind-Treffen, Selbsthilfegruppen und unterschiedliche Bildungsformate.
- Im Rahmen des Sonderschwerpunkts „Förderung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen“ setzt das MGH folgende Angebote um: Sensibilisierung der haupt- und ehrenamtlichen Kräfte in der Sozialberatung, ein offenes Lerncafé, ein Plus-Minus-Treff für finanzielle Grundbildung, eine Bibliothek und einen offenen Bücherschrank, Informationsveranstaltungen in der Region sowie Ausstellungen zum Thema Lese- und Schreibschwierigkeiten.
- Die Verbandgemeinde Gerolstein hat rund 7.500 Einwohner. Davon fallen statistisch gesehen rund 1.000 Menschen in die Zielgruppe des Sonderschwerpunkts.